Die andere Seite der Medaille – Wie deutsche Wirtschaft und Standorte vom Brexit profitieren können
Kommt der Brexit-Deal nun doch noch? Die jüngsten Signale aus London und Brüssel erscheinen vielversprechend. Dennoch ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen: Nicht nur die Demokratie im Vereinigten Königreich hat bereits jetzt unter dem Brexit-Vorhaben Schaden genommen: Es geht auch ein tiefer Riss durch die britische Gesellschaft und die wirtschaftliche Lage auf der Insel verschlechtert sich zusehends. Was bedeutet das Brexit-Chaos für die Wirtschaft in Deutschland? Eine Studie von IW Consult im Auftrag des NRW-Wirtschaftsministeriums liefert Antworten – und einen etwas anderen Blick auf den Brexit.
Erste Verlierer im Brexit-Poker stehen schon fest
Die Märkte bewerten die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits eindeutig. Dies drückt sich etwa im Wechselkurs des britischen Pfundes zum Dollar aus, der am Tag des Brexit-Referendums (23. Juni 2016) noch 1,47 Dollar wert war, beim Verfassen dieser Zeilen hingegen bei gerade einmal 1,26 Dollar lag.
Kritiker könnten nun einwenden, dass der Wertverfall des Pfundes die britischen Exporte ja begünstige, da er Produkte von der Insel für den Rest der Welt billiger macht. Damit stärke der Brexit sogar letztendlich die britische Wirtschaft. Diese Argumentation lässt aber außer Acht, dass das Vereinigte Königreich (VK) in weitaus größerem Maße darauf angewiesen ist, Güter zu importieren statt zu exportieren. So betrug 2018 das britische Leistungsbilanzdefizit 31 Milliarden Pfund. Betrachtet man nur den Warenhandel, so steigt das Defizit auf beeindruckende 138 Milliarden Pfund. Abgemildert wird dieses Defizit nur durch einen großen Leistungsbilanzüberschuss bei den Dienstleistungen in Höhe von 107 Milliarden Pfund. Sollte sich nach einem Brexit der Austausch von Waren, etwa durch Zölle oder bürokratische Prozesse, weiter verteuern, so könnte auch das Leistungsbilanzdefizit des VK weiter ansteigen.
Aber auch die britischen Verbraucher gehören bereits jetzt zu den Verlierern des Brexits: Forscher der London School of Economics haben berechnet, dass der durchschnittliche britische Haushalt bereits Mitte 2017 wegen des Brexits höhere Ausgaben in Höhe von 404 Pfund im Jahr hatte. Diese Kosten dürften sich ebenfalls zwischenzeitlich spürbar erhöht haben. Dabei ist insbesondere das Risiko der Arbeitslosigkeit ist im VK spürbar gestiegen: Immer mehr britische Unternehmen reduzieren ihre Investitionen im VK, denken offen über eine Standortverlagerung nach Kontinentaleuropa nach – oder haben diesen Schritt sogar schon vollzogen.
Auch britische Traditionsunternehmen verlassen das Vereinigte Königreich
Daten von Germany Trade & Invest (GTAI), der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing des Bundes, deuten darauf hin, dass sich bereits im Jahr 2017 über 150 Firmen aus dem Vereinigten Königreich neu in Deutschland angesiedelt haben, was einem Anstieg um rund 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Und auch im Jahr 2018 haben wichtige Unternehmen ihre Standortstrategie angepasst. Prominente Beispiele sind die japanischen Elektronikriesen Sony und Panasonic, die ihren jeweiligen europäischen Hauptsitz von London nach Amsterdam verlagert haben bzw. verlagern werden. Für den Fall eines harten Brexits haben selbst die britischen Traditionsunternehmen Jaguar Land Rover und Rolls-Royce angekündigt, zumindest Teile der Produktion nach Kontinentaleuropa zu verlegen.
Die ökonomische Lage auf der Insel wird zusätzlich dadurch verschärft, dass die gesamte Weltwirtschaft unter dem Handelskrieg der USA und China leidet. Ob die von der britischen Regierung angekündigten Freihandelsabkommen mit den USA dabei wirklich eine Rettung der britischen Wirtschaft bieten können, wie es so mancher Brexit-Hardliner heutzutage gerne verkündet, darf vor diesem Hintergrund bezweifelt werden.
Betroffenheit der Wirtschaft in NRW
Aber nicht nur die britische Wirtschaft ist vom Brexit betroffen, europaweit haben viele Unternehmen bereits ihre Brexit-Notfallpläne aus der Schublade geholt. Da Nordrhein-Westfalen nach dem Zweiten Weltkrieg von den Briten gegründet wurde, sind hier die Handelsbeziehungen natürlich sehr eng – und damit auch die Gefahren eines möglicherweise ungeregelten und chaotischen Brexits.
Erfreulicherweise hat unsere Studie in Bezug auf die NRW-Unternehmen gezeigt: Bereits Anfang 2019 war die weit überwiegende Mehrheit der Unternehmen bereits auf einem guten Weg bei den Brexit-Vorbereitungen. Nur neun Prozent hinkten nach eigenen Angaben den eigenen Planungen hinterher. Wie die im Rahmen der Studie geführten Experteninterviews mit NRW-Unternehmen zeigten, haben die Unternehmen dabei überraschend frühzeitig damit begonnen, zum Beispiel ihre Lieferketten zur Risikominimierung von Großbritannien weg zu verlagern. Diese Maßnahmen werden sich auch nur schwerlich wieder rückgängig machen lassen – selbst wenn am Ende doch noch ein einvernehmliches Austrittsabkommen zwischen der Regierung in London und der EU geschlossen werden sollte.
Besonders stark wird nach derzeitiger Einschätzung die Pharmaindustrie unter einem – wie auch immer ausgestalteten – Brexit leiden: Jeden Monat gehen rund 45 Millionen Medikamentenpackungen von Großbritannien nach Europa, in die andere Richtung sind es rund 37 Millionen Packungen. Bei einem ungeordneten Brexit und der Einführung von Zollkontrollen an den neuen EU-Außengrenzen wären Transportprobleme und Lieferengpässe fast unausweichlich. Weitere Unsicherheiten resultieren aus – zukünftig wahrscheinlich unterschiedlichen – rechtlichen Rahmenbedingungen in diesem hochsensiblen Bereich, etwa bei der Arzneimittelsicherheit und Medikamentenzulassung. Dies kann gerade aus Sicht deutscher Mittelständler zu erheblichen Herausforderungen führen.
Abbildung 1: Sind die Unternehmen auf den Brexit vorbereitet?
In Prozent aller befragten Unternehmen, Anfang 2019

Bereits heute (auch) positive Brexit-Effekte
Angesichts all dieser Schreckensszenarien, die natürlich bereitwillig von den (sozialen) Medien aufgegriffen werden, fallen die möglichen positiven Effekte eines Brexits für die deutsche Wirtschaft oft unter den Tisch. Dass der Brexit auch positive Wirkungen haben kann, ist insbesondere auf die sogenannten „handelsumlenkenden Effekte“ zurückzuführen und lässt sich besten am einem Beispiel verdeutlichen.
Betrachten wir exemplarisch ein spanisches Industrieunternehmen, das bislang die benötigten Vorprodukte von der britischen Insel bezogen hat. Bei einem „No-Deal“-Brexit würden diesem spanischen Unternehmen nun Lieferengpässe drohen, die es bereits im Vorfeld abzuwenden gilt. Als Ersatz für den britischen Lieferanten unseres spanischen Unternehmens kommen nun deutsche Unternehmen ins Spiel.
Unsere Studie zeigt, dass bereits Anfang 2019 viele NRW-Unternehmen auf diesem Wege zusätzliche geschäftliche Kontakte in den übrigen EU-Staaten aufbauen konnten. Vor allem kontinentaleuropäische FuE-Kooperationen und Produktionskapazitäten im nicht-britischen EU-Ausland haben die befragten Unternehmen als deutliche Brexit-Chance für ihr eigenes Unternehmen benannt.
Abbildung 2: Spüren die Unternehmen bereits heute Auswirkungen des Brexits?
Mittlere Punktwerte von 1 Punkt (stark negative Auswirkungen) bis 10 Punkte (stark positive Auswirkungen), alle befragten Unternehmen

Brexit kann auch zukünftig Chancen bieten
Neben den bereits heute spürbaren Effekten des Brexits wurden die befragten Unternehmen auch nach den erwarteten Auswirkungen eines Brexits in der Zukunft gefragt. Die Erwartungen unterscheiden sich ganz erheblich danach, ob es zu einem „No-Deal“-Brexit kommt oder das VK die EU mit einem geregelten Austrittsabkommen verlässt. Ein harter Brexit würde nach Ansicht von knapp 40 Prozent der befragten Unternehmen vor allem dazu führen, dass direkte Konkurrenten aus dem VK geschwächt würden. Der britischen Wirtschaft droht also auch von dieser Seite Ungemach – ein potenzieller Wettbewerbsvorteil für deutsche Unternehmen.
Je nach Brexit-Szenario könnte aus dem Brexit auch eine Verbesserung des Fachkräfteangebotes für deutsche Unternehmen resultieren. Diese Einschätzung deckt sich mit den Daten der britischen Statistikbehörde ONS, denen zufolge mehr Arbeitskräfte aus den osteuropäischen Staaten wie Polen oder Litauen die Insel verlassen als neu ankommen. Noch vor wenigen Jahren war für die umworbene junge Generation aus diesen Ländern das Vereinigte Königreich die erste Wahl – nun werden auch deutsche Unternehmen von den begehrten osteuropäischen Nachwuchskräften entdeckt.
Auch Standorte können vom Brexit profitieren
Britische Unternehmen, die vor dem Hintergrund des Brexits die Insel verlassen wollen, stehen vor dem großen Problem, in vergleichsweiser kurzer Zeit einen geeigneten Standort in Kontinentaleuropa finden zu müssen. Hier kann das deutsche Standortmarketing ansetzen. In unserer Studie zeigen wir exemplarisch am Beispiel von NRW, wie man anhand ökonometrischer Verfahren die richtigen Zielregionen für das eigene Werben um Neuansiedlungen ausmachen kann und wie – zumindest im Falle eines geordneten Brexits – zukünftige britisch-deutsche Wirtschaftskooperationen aussehen können. Zur Unterstützung des NRW-Standortmarketings haben wir diese Informationen auch in ein prototypisches Online-Tool überführt, das umsiedlungsbereiten britischen Unternehmen einen niedrigschwelligen Zugang zur NRW-Standort-Vorauswahl bietet.
Abbildung 3: Standortmarketing-Zielregionen für D‘dorf
Basierend auf dem IW-Regional Similarity Index (RSI), Wertebereich [0 – 100]
![Abbildung 3: Standortmarketing-Zielregionen für D‘dorf Basierend auf dem IW-Regional Similarity Index (RSI), Wertebereich [0 – 100]](/fileadmin/_processed_/f/b/csm_Grafik_Ddorf_20191007_edb058516e.png)
Fazit
Die Mehrzahl der Unternehmen – so zeigt es zumindest unsere Studie für NRW – waren bereits Anfang 2019 besser auf den Brexit vorbereitet, als wir es erwartet hätten. Neben den unbestreitbaren wirtschaftlichen Brexit-Risiken, die aber insbesondere die britische Wirtschaft betreffen werden, bietet der Brexit für deutsche Unternehmen und heimische Standorte sogar Chancen. Einige positive Effekte des Brexit-Chaos sind sogar schon in den Unternehmen angekommen.
Dennoch gilt es für die Wirtrschaft, weiterhin wachsam zu bleiben und so neu aufkeimende Risiken oder sich abzeichnende Chancen frühzeitig zu identifizieren. Allerdings ist nach wie vor nicht völlig auszuschließen, dass letztendlich doch alles anders kommt als erwartet und die Briten nach Neuwahlen und einem zweiten Referendum ein wertgeschätztes und wichtiges Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft bleiben – zu hoffen wäre es.
Zur Studie
Die Brexit-NRW-Studie zeigt exemplarisch die grundsätzliche Herangehensweise in den Beratungsprojekten der IW Consult, in denen ein breiter Methoden-Mix eingesetzt wird, um eine Problemstellung aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und ebenso differenzierte wie pragmatische Handlungsempfehlungen ableiten zu können.
Die Studie kann im Volltext kostenfrei als pdf auf den Internetseiten des NRW-Wirtschaftsministeriums heruntergeladen werden (Link: https://www.wirtschaft.nrw/brexitstudie).
Der vorliegende Text ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung des Artikels „Die andere Seite der Medaille“ aus dem Verbändereport, Ausgabe 07, November/Dezember 2019, 23. Jahrgang.